Trägerübergreifendes Persönliches Budget
nach § 17 (2) SGB IX
Erklärung zu Selbstbestimmung, Assistenz und zum „äußeren Rahmen“
In unserer beruflichen Praxis erleben wir bei dem Bemühen „neue Wege“ zu ebnen bisweilen bemerkenswerte Rückwirkungen, welche wir der offenen Diskussion nicht vorenthalten wollen.
Bei der Bemühung, Autonomie und Selbstbestimmung zu stärken, gehen wir von folgendem Grundverständnis aus:
- jeder Mensch hat ein Recht auf selbstbestimmtes Wohnen, freie Wahl seiner Freunde und Partner und auf selbstbestimmte Sexualität.
- Menschen in herausgeforderten Situationen haben prinzipiell Anspruch auf Selbstverwirklichung, auch in der Hilfeplanung – dazu ermöglichen wir durch unsere Assistenz ggf. die Verwirklichung des Rechtsanspruches auf ein „Trägerübergreifendes Persönliches Budget“ nach § 17 SGB IX (2).
- Wer Hilfen selbst verwirklichen will, indem der Bedarf in einen Geldbetrag nach § 17 (2) SGB IX umgerechnet wird, der kann dann als Budget zweckgebunden und selbstbestimmt Geld einsetzen. Dazu wird benötigt:
- tragfähige Bündnisse und Assistenz auf Augenhöhe
- Vertrauen in die Gestaltung der eigenen Belange
- Geduld, Ruhe, Kraft und eine Zielsetzung in der Lebensgestaltung
Auf dem Hintergrund guter, wie auch bemerkenswert kritischer Erfahrungen, stellen wir „gefundene Verlautbarungen aus der Praxis“ – d.h. exemplarisch und anonymisiert - zur Diskussion. Dies hat seinen konkreten Hintergrund in unserer jeweils aktuellen Arbeit. Und wir meinen, dass diese Einzelerfahrungen genausogut auch in anderen oder verwandten Bereichen nachvollziehbar erscheinen können.
Wir gehen neue Wege …
- … wir gehen neue Wege, indem wir althergebrachte Muster der Hilfegewährung überwinden und die Hilfen nach § 17 (2) SGB IX als Geldzahlung beanspruchen. Wir suchen und finden dann selbst Menschen, die Erfordernisse bearbeiten und diese Menschen können Angehörige sein, Menschen mit Fachwissen, Menschen mit besonderen Fähigkeiten, Profis wie auch Laien, die für die Betroffenen positive Synergien ermöglichen und für ihre Lebensgestaltung eine wertvolle Bereicherung sind. Bemerken wir, dass wir uns in bestimmten Menschen dann auch mal getäuscht haben, indem diese bezahlte Dienste leisten, diese Dienste der Begleitung und Unterstützung mit Zutritt in die privaten und persönlichen Bereiche aber in irgend einer Form missbrauchen, dann wollen wir das keinesfalls tolerieren.
- … wir gehen neue Wege … und werden dennoch den Konflikten, die sich ergeben können, nicht ausweichen, diese auch nicht verleugnen oder beschönigen. Wenn uns unsere Klienten anfangen zu belügen, weil sie beispielsweise in ein Beziehungsabhängigkeiten geraten sind oder in einen unlösbaren Loyalitätskonflikt … und wenn daraus dann eine hochkonfliktträchtige Situationen entsteht, dann konfrontieren wir die Beteiligten damit, dass etwas wesentliches falsch gelaufen ist. Dies ist aber kein Anhaltspunkt dafür, dass Persönliche Budgets nach §17 (2) SGB IX nicht attraktiv für die Betroffenen erscheinen sollten …
- … wir gehen neue Wege … und beleuchten die Geschehnisse. Wir wollen keinen „Drehtürpsychiatrieeffekt“ erzielen, wir unterstützen unsere Klienten, dass sie nicht gegen ihren Willen und nicht zu lange in der Psychiatrie bleiben. Wie geht das? Wir suchen neue Möglichkeiten, dass durch ein Trägerübergreifendes Persönliches Budget nach § 17 (2) SGB IX in Verbindung mit dem Recht auf Selbstbeschaffung von Hilfen nach § 15 SGB IX die Psychiatrieaufenthalte abgekürzt und vermieden werden. Wir freuen uns über Dienstleister, die Leistungen erbringen, welche einen Psychiatrieaufenthalt ersetzen können und treten dafür ein, dass solche sinnvollen Alternativen etabliert werden und auch angemessen bezahlt werden. Wir halten aber nichts von „Schönwetter-Alternativen“, welche die urbanen und harten Verhältnisse aus der realen Wahrnehmung ausklammern. Wir sind interessiert an professionellen Kooperationspartnern, die angemessen bezahlt werden wollen.
- … wir gehen neue Wege … und das geschieht auf der Grundlage verbürgter Rechtsansprüche – nämlich Geldleistung statt Sachleistung. Bei dringenden und nicht aufschiebbaren Erfordernissen berufen wir uns auf das Selbstbeschaffungsrecht nach § 15 SGB IX. Durch langwierige Bewilligungsverfahren und zögerliche Antragsbearbeitung bei Reha-Trägern werden mitunter die Betroffenen unsicher, zweifelnd und mürbe gemacht – nicht selten straucheln sie und sind dem Nervenzusammenbruch nahe. Geldleistung alternativ zur Sachleistung soll ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Da stellen wir die Frage: Wenn etwa nur 0,27 % der Anspruchsberechtigten ihre Rechte auf Umstellung der Hilfen auf Geldzahlung als Budget verwirklichen – da kann doch etwas nicht stimmen (!?) – nicht einmal 3 von 1000 (!) – es liegt am gesellschaftlichen Klima und an der Haltung gegenüber Menschen, die herausgefordert sind, sie sind als Bittsteller wahrgenommen und sollen es womöglich bleiben (?!) – sie sollen in den althergebrachten Formen der Hilfe verbleiben (?!): stationär in Heimen statt ambulant versorgt (?!) – psychiatrisiert statt eigenwillige Potentiale verwirklichen (?!) - … wenn wir neue Wege gehen, dann wollen wir uns von der Resignation abwenden … das Risiko könnte sich ja genauso gut auch lohnen. Herausforderungen sind dazu da, sie zu meistern …
- … wir gehen neue Wege … und treffen auf Dienstleister, die Alternativen anbieten zum gängigen Muster. Oder auch Angehörige und Freunde nehmen sich die Zeit und bekommen dafür Lohnersatz aus dem Budget. Wir setzen uns dafür ein, dass diese Initiativen dann auch tatsächlich aus dem Budget nach SGB bezahlt werden. In seltenen Fällen verschlingt dies Jahre vor den Sozialgerichten mit überlasteten Sozialrichtern, die sich in permanenten Notwehrhaltungen wiederfinden und selten Recht sprechen, aber „gerichtliche Vergleiche“ vorschlagen – kaum ein richtungsweisendes Grundsatzurteil erlassen. Dann fangen die Initiativen an nervös zu werden. Sie reden nicht offen über das Geld, das sie für professionelle Arbeit brauchen. Sie fangen an Schönwettertherapien zu zelebrieren und unsere Klienten fallen zu lassen und hinauszuloben. Diese Scheinalternativen kennen die Härte des gewöhnlichen Alltags und auch der allgemeinen Entfremdung nicht. Sie entlassen ihre Interessenten dann wieder in das alte System und diese sind dann unvorbereitet in die bisherige Umgebung zurückgestoßen, weil eine Idylle Illusionen erzeugt und nicht trägt. Dann werden Konflikte schön geredet, damit die unhaltbare Situation sang- und klanglos und lau zum Ende kommt. Dann sind unsere Klienten am Boden zerstört. Oder sie finden zu sich und benötigen keine Hilfen mehr – sie sind sich der Verhältnisse bewusst geworden, das kann heilsam sein – sie begreifen sich nicht mehr als hilfebedürftigen Ballast. Sie haben genug davon und stellen sich auf die eigenen Beine. Sie singen das Lied „I will re-occupie myself!“ . Sie wollen nicht mehr fremd-besetzt sein, sie emanzipieren sich. Das beste was sie tun können. Wir bestätigen aber auch Verläufe, die im großen und ganzen funktionieren und die Betroffenen zu ihrem Geld kommen – es könnte meistens mehr sein, dennoch: es lohnt sich weiterzumachen … und wir bestätigen des weiteren auch langweilige bis unbefriedigende Verläufe, in welchen die Initiatoren unter formalem und nichtssagendem Redefluss leiden, sie vermeiden die Verwirklichung dessen, was eigentlich angesagt ist: Autonomie und Gleichstellung. Die Banalität des vorläufig noch Normalen. Wir gehen neue Wege und versuchen es wieder … wir bleiben dabei wachsam, wir unterscheiden und wählen einen bestimmten „Pfad“, der uns zielführend erscheint.
- … wir gehen neue Wege … und neulich haben wir MitarbeiterInnen in der Sozialverwaltung (ohne zu lauschen) – nämlich im Gespräch in ihren eigenen Räumen - etwas aussprechen hören: „Sie wollen doch nur das System ändern und dabei zerschließen Sie die Betroffenen, indem Sie ihnen die konventionellen und bewährten Hilfen entziehen …“ - das wollen wir nicht überhören, aber klarstellen (!). Es ist ja so, dass die konventionellen Hilfen fortbestehen. Es besteht aber seit 1.1.2008 und auf der Grundlage der in Deutschland ratifizierten UN-Konvention 61-106 ein definitiver Rechtsanspruch auf Leistungen – und das sozusagen parallel zum bestehenden altbewährten System – und diese Alternative versetzt die Betroffenen in die Lage, selbstbestimmt zu handeln, indem sie Geld in die Hände bekommen anstatt mit „Sachleistung zufrieden“ zu sein. Wir dürfen nach dem Wortlaut der genannten UN-Konvention davon sprechen, dass es sich dann wohl doch um „Diskriminierung“ handeln könnte, wenn das gängige altbewährte System – das wir garnicht abschaffen wollen oder können – 99,73 % der Hilfestruktur bestimmt. Auch wenn wir nur zu den 0,27% gehören, die Autonomie in der Hilfe tatsächlich verwirklichen konnten – so haben wir das Bürgerrecht hinter uns – und wir stellen die Frage: Wem müssen diese Zahlen peinlich sein? Denn diese zeigen auf, dass die Unzufriedenheit der Anspruchsberechtigten nachvollziehbar erscheinen könnte. Und es folgt daraus etwas …
- … wir gehen neue Wege … und wir bemerken, dass aus den bisherigen Verläufen etwas folgt: Die Anspruchsberechtigten sind keine besseren Menschen, sie nehmen nur ihr Schicksal tatkräftig eher selbst in die Hand, als dass sie nehmen, was ihnen ungefragt zugeschoben oder angetragen wird. Die prinzipielle Gefahr des Missbrauchs der Gelder wird durch die erforderliche Unterstützung und Assistenz von unserer Seite ausgeräumt. Auch trifft es zu, dass im althergebrachten Hilfesystem ebenfalls nicht alles in Ordnung ist – insofern sind die neuen Wege legitim und schon fast zwangsläufig vorgegeben. Wir freuen uns darauf – und es macht einen Unterschied …